Benjamin Raich zählte viele Jahre zu den Vorzeigeathleten im österreichischen Skisport. Doch was passiert eigentlich, wenn es mit der Profisportkarriere zu Ende geht und sich ein Ausnahmeathlet neu erfinden muss? Im Gespräch erzählt er, wie mit dieser neuen Situation umgeht. 

Wir treffen dich gerade in St. Anton, es herrscht dichtes Schneetreiben, und eiskalt ist es noch oben drein. Gehst du selbst bei solchen Bedingungen noch gerne Skifahren? 

Also heut war es schon sehr extrem. Um ganz ehrlich zu sein würde ich im Vergleich zu früher bei solchen Bedingungen wahrscheinlich nicht mehr auf die Piste gehen. Trotzdem fahre ich nach wie vor sehr viel, und als reinen Schönwetterfahrer kann ich mich auch heute sicher nicht bezeichnen. Mich findet man auch im Tiefschnee oder auf der Buckelpiste, wenngleich Sonnenschein und perfekte Pistenverhältnisse natürlich ein Traum sind. 

Leidenschaft, Beruf oder Freizeitvergnügen – was ist das Skifahren heute noch für dich? 

Nach wie vor die große Leidenschaft. Ein Beruf kaum mehr, auch wenn ich immer wieder mal für meine Sponsoren tätig bin. Überhaupt hatte ich das große Glück, meinen Sport nie als Beruf im klassischen Sinn anzusehen, weil ich ihn immer sehr gerne ausgeübt habe. Klar, bei minus 25 Grad und in einem dünnen Rennanzug macht es nicht so viel Spaß, aber in guter Gesellschaft war man schließlich immer unterwegs.


Hast du es geschafft, nach der Karriere nochmals eine Leidenschaft zu finden, für die du so brennst, oder geht dir diese uneingeschränkte Hingabe in deinem Leben ab? 

Klar. Wenn man für das Skifahren so brennt wie ich, meine Frau oder viele andere, dann ist es eine echt schwierige Aufgabe, wieder so etwas zu finden, aber man darf auch nicht vergessen, mit wie viel Aufwand das Skifahren verbunden war. Diese absolute Hingabe für dieses eine Ziel. Wenn du in dem Tempo weitermarschieren willst, hast du vermutlich früher oder später ein Problem – du willst ja auch mal Zeit für andere Dinge haben. Da muss man einfach den Spagat hinbekommen. Ideen, die mir taugen, hätte ich jedenfalls genug, aber wenn ich genau darüber nachdenke, was es denn bedeuten würde, eine davon konsequent bis zum Ende durchzuziehen, bleibt am Ende des Tages wieder keine Zeit für die Familie. Ich bin derzeit in der privilegierten Lage, dass ich nicht unbedingt etwas machen muss. Trotzdem bleibe ich selbstverständlich am Ball – für die Familie da zu sein steht aber im Vordergrund. 

Was für Ideen wären denn das so? 

Im Sport gäbe es bestimmt einige Aufgaben, die sicher gut zu mir passen würden. Beispielsweise als Betreuer im Spitzensport, aber dann bist du wieder die ganze Zeit nur unterwegs – und gerade das hatte ich schon durchgehend die letzten 25 Jahre. Es gibt auch noch andere Dinge im Leben. 

Braucht man denn nach so einer Karriere nochmal so ein klares Ziel, um darauf hinzuarbeiten, oder kann man das ablegen? 

Nein, mir persönlich fehlt das eigentlich überhaupt nicht, und ich war von Anfang an sehr glücklich mit meiner Entscheidung. Vorher hast du genau gewusst, was dein Ziel ist, und du wusstest auch ziemlich genau, was du dafür tun musst, um es zu erreichen. Mit dem Ende meiner Karriere war das alles weg. Dein Tagesablauf wird anders, und du fragst dich natürlich, was du jetzt machen sollst mit der ganzen Zeit. Nur Radlfahren und zur Gaudi Skifahren zu gehen ohne Ziel ist dann auch zu wenig. Glücklicherweise habe ich schon während meiner Karriere einige Sachen nebenbei angefangen, wie zum Beispiel meine Rennschule aufzubauen und ein paar Immobilienprojekte zu starten. Daheim in den eigenen vier Wänden gibt es auch immer etwas zu tun – Dinge, die ich während meiner Karriere immer abgegeben habe. Jetzt übernehme ich alles, und da muss ich eher aufpassen, dass ich nicht zu viel mache. Die größte Gefahr ist vermutlich, nicht zu wissen, was man nach dem Profisport mit sich anfangen soll. Ja, wobei ich das Gefühl habe, dass die meisten, die ich kenne, Aufgaben für sich gefunden haben. Manche finden diese früher und vielleicht direkt nach dem Karriereende, und manche erst später.


Jetzt wissen wir, was dir alles nicht mehr abgeht, aber was vermisst du eigentlich am meisten am Spitzensport? 

Und dabei haben wir noch gar nicht über den Rennstress gesprochen! Auch darüber bin ich froh, dass ich den erleben durfte und jetzt nicht mehr habe. Wenn du so eine Herausforderung annimmst und sie meisterst, dann ist dieses unglaubliche Gefühl heute natürlich nicht mehr mit vielen Erlebnissen zu vergleichen. Das könnte mir vielleicht mal abgehen, aber noch weiß ich, was alles dazugehört, um dieses Gefühl im Ziel zu verspüren, und das geht mir wiederum nicht ab. Das war eigentlich fast der Hauptgrund, der mich dazu bewogen hat, meine Karriere zu beenden. Wenn du ganz vorne mitmischen willst, musst du so viel hergeben, so eine Spannung aufbauen und so viel Kopfarbeit leisten, um im Bruchteil einer Sekunde alles so umzusetzen, wie du es dir bei der Besichtigung vorgenommen hast. Ein gewisses Risiko ist auch dabei. Oft musst du Dinge tun, bei denen du grübelst, ob sie klug sind. Wenn du eine perfekt präparierte Piste vor dir hast, ist es „relativ einfach“, sich zu überwinden, aber die hast du ja in den seltensten Fällen. Meistens sind es schwere Pisten mit schlechter Sicht – und genau bei denen musst du voll an dein Limit gehen, um vorne mitzumischen. Mitzufahren nur um 40. zu werden war nie meines. 

Wann fasst man die Entscheidung, die Karriere zu beenden und alles hinter sich zu lassen? 

Eigentlich wollte ich schon zwei Jahre früher aufhören, und auf einmal dachte ich mir: ich brauche das jetzt noch niemandem zu sagen, es reicht auch im Herbst noch, weil trainiert habe ich ja. Das Konditionstraining habe ich mit der Marlies mitgemacht, und letztendlich habe ich mich nochmal umentschieden, habe trainiert und mir irgendwann gedacht: Jetzt spüre ich es wieder, muss nur mehr ein, zwei Dinge umstellen – vielleicht auf die Abfahrt und den Super G verzichten und mich auf weniger besser konzentrieren. Es macht natürlich einen Unterschied, auf wie viele Rennen du dich mental vorbereiten musst. Die meisten glauben ja, dass es nur um die Physis geht, aber aus meiner Sicht geht es vielmehr um die mentale Einstellung, bereit zu sein, alles und wirklich alles zu geben. Die Spannung aufzubauen, wach zu sein und auch in schwierigen Situationen das durchzudrücken, was du dir vorgenommen hast. Dann habe ich wieder ein Ziel für mich gefunden: im Riesentorlauf Weltmeister zu werden in Beaver Creek. Ich bin froh, dass ich weitergefahren bin, habe noch Stockerlplätze gemacht und war auch nah am WM-Titel dran, bin aber mit sechs Zehntel Vorsprung bei der Zwischenzeit ausgeschieden. Ich war danach so enttäuscht, dass es nicht geklappt hat, aber genau diese Enttäuschung hat mir gezeigt, dass es richtig war, weiter zu machen. Wenn dir sowas wurscht ist, wäre die Entscheidung weiterzumachen falsch gewesen. 

Musst du jetzt als Vater das Tempo beim Skifahren zurückschrauben? 

Momentan bin ich meistens noch allein auf der Piste. Mein Größerer kommt schon ab und zu mal mit, aber zu viert Skifahren geht sich einfach noch nicht aus. Allerdings gehe ich immer wieder mal mit meinen beiden Neffen, die schon sechs und acht sind, Skifahren. Das macht einen Riesenspaß, weil du normal Skifahren kannst und die beiden so eine Freude daran haben, die einfach ansteckt: Die schießen oben immer gleich beim Lift raus, weil sie es gar nicht erwarten können, sich die Piste runterzustürzen! 

Also freust du dich schon auf die Pistentage, wenn deine Kids ein bisschen größer sind? 

Auf jeden Fall. Man muss aber darauf achten, ob ihnen das Skifahren überhaupt Spaß macht. Beim Josef wirkt es jedenfalls schon, als ob er eine große Freude daran hätte, bei uns im Garten mit den Skiern herumzurutschen.